Ein Herz für die Pflege

23. Februar 2023

Ehrenvoller Job mit schlechtem Image

Sich um Kranke, Verletzte und Gebrechliche zu sorgen und sie zu pflegen, ist schon so alt wie die Menschheit selbst. Beispielsweise wurde herausgefunden, dass es die Funktion der Hebamme bereits im Neolithikum gegeben haben musste. Ägypter, Griechen, Römer, Inder – ...

von Michael Seiler

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Sich um Kranke, Verletzte und Gebrechliche zu sorgen und sie zu pflegen, ist schon so alt wie die Menschheit selbst. Beispielsweise wurde herausgefunden, dass es die Funktion der Hebamme bereits im Neolithikum gegeben haben musste. Ägypter, Griechen, Römer, Inder – sie alle hatte etablierte Strukturen, Bedürftigen entsprechende Pflege zuteilwerden zu lassen. Interessant hierbei: In Indien, aber auch in Griechenland war der Pflegeberuf von Männern geprägt, während es in Ägypten im 2. Jahrhundert v. Chr. zwar männliche Ärzte zur Erstversorgung gab, aber Tempelfrauen, die die anschließenden pflegenden Aufgaben übernahmen.

Durch den Einzug des Christentums als Weltreligion und der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit als christliche Tugenden entwickelten sich die neugegründeten Klöster nach und nach gewissermaßen zu Pflegezentren, in denen auch ausgebildet wurde. Im Gegensatz zum antiken Griechenland, wo es keine Trennung von Medizin und Pflege gab, drifteten in christlichen Ländern diese Disziplinen zwangsläufig auseinander. Mönchen waren „handwerkliche“ ärztliche Tätigkeiten verboten. Die Klöster konzentrierten sich fortan der akademisch-internistischen Heilkunde.

Das „Jahrhundert der Medizin“ – das 19. n. Chr. -, sah viele Fortschritte in naturwissenschaftlich fundierter Diagnostik und Therapie sowie die Entstehung von Hospitälern, aber auch viele kriegerische Auseinandersetzungen in Europa, die wiederum unzählige Kriegsverletzungen verursachten.
Die britische Krankenschwester Florence Nightingale gründete 1860 in London mit der Nightingale School of Nursing die erste konfessionell unabhängige Krankenpflegeschule. Die Rotkreuzbewegung wurde von Henri Dunant, einem christlichen Humanisten und Geschäftsmann aus der Schweiz, nur wenig später ins Leben gerufen. Das Rote Kreuz bildete fortan auch Krankenschwestern aus, um Kriegsversehrte und andere Hilfebedürftige besser versorgen zu können.

 

Familie & Frauen

Die Hauptlast der Pflegearbeit lag jedoch schon immer auf familiären Schultern, meist denen der Frauen im Haushalt. Obwohl es heute immer weniger Mehrgenerationenhäuser gibt, in denen es traditionell zu innerfamiliärer Unterstützung bei der Kinder- oder Altenpflege kommt, leisten Angehörige weiterhin laut Statistischem Bundesamt (2019) mit 56 Prozent den Löwenanteil an der Versorgung von Pflegebedürftigen. Sechs Jahre zuvor waren es allerdings noch rund 67 Prozent.

Rechnet man mal zusammen, was die unentgeltliche Pflege daheim eigentlich für einen Gegenwert hat, so wie Dieter Bogai es in „Der Arbeitsmarkt für Pflegekräfte im Wohlfahrtsstaat“ im Rückblick auf Daten von 2014 getan hat, so kommt man auf eine schwindelerregende Summe von rund 10 Mrd. Euro.

Die Pflegearbeit ist seit jeher – mit ein paar wenigen geschichtlichen Ausnahmen – eine Frauendomäne. Generell sind soziale Tätigkeiten immer noch weiblich konnotiert und werden mit weiblichen Eigenschaften in Verbindung gebracht. Und auch die Zahlen belegen das: Selbst im Jahr 2021 waren 83 Prozent aller im Pflegebereich tätigen Personen Frauen (Quelle: statista.com). Es gibt aber auch gesellschaftliche Gründe: Als sich im Mittelalter die Medizin als neue Wissenschaft an die ersten Universitäten verlagerte, erhob sie sich gewissermaßen über die Krankenpflege, die von Nonnen weiterhin in Klöster aus christlicher Nächstenliebe betrieben wurde. In der Unterordnung und der Geschlechtertrennung liegen Gründe, warum die Pflege bis ins 20. Jahrhundert hinein Schwierigkeiten hatte, als Profession überhaupt anerkannt zu werden. Eine Gleichberechtigung zu anderen Berufen, z. B. in puncto Bezahlung, hat bis heute nicht auf allen Ebenen stattgefunden, auch wenn die Entwicklung der Bruttoverdienste in der Branche Mut macht.

 

Ausbildung & Studium

War die Hilfe von Bedürftigen früher eine freiwillige unbezahlte Arbeit, ist sie mittlerweile zu einem bezahlten Beruf mit unterschiedlichen Qualifikationsstufen geworden, für den es vielerorts diverse Ausbildungs- und Studienmöglichkeiten gibt. Mit der zunehmenden Akademisierung kann der Pflegeberuf einen noch größeren Beitrag zur Versorgung der Menschen leisten, gerade in Zeiten, in denen der Ärztemangel immer eklatanter wird. Entsprechend ausgebildete Pflegepersonen können Aufgaben übernehmen, die früher Ärzten vorbehalten waren. Gerade in ländlichen Gegenden, in denen die Ausdünnung des Ärztegeflechts am offensichtlichsten ist, könnte dies entscheidend zur Aufrechterhaltung der nötigen Versorgung der Menschen beitragen. Aber auch im Rahmen des Managements von Pflegeangeboten steigt die Notwendigkeit an speziell geschultem Personal.

Mit dem Pflegeberufereformgesetz wurde zum 1.1.2020 eine neue generalisierte Form der Ausbildung zur Pflegefachkraft eingeführt. Azubis müssen sich seitdem nicht vorab zwischen Kranken-, Alten- oder Kinderkrankenpflege entscheiden, sondern durchlaufen alle gemeinsam eine zweijährige Grundausbildung. Daran schließen dann entsprechende einjährige Spezialisierungen der einzelnen Fachgebiete an. Ob das Gesetz wie gewünscht die Attraktivität des Pflegeberufs zu steigern vermag, muss sich noch zeigen. Die ersten Abschlüsse werden 2023 gemacht.

 

Die alternde Gesellschaft

Statistiken zeigen, dass in den 1870er-Jahren Männer im Durchschnitt nur 35 und Frauen nur 38 Jahre alt wurden. Ältere Menschen wurden im Rahmen der Krankenpflege oder in der Familie versorgt, für eine ausgegliederte Altenpflege bestand keine Notwendigkeit. Für die „Alten“ ihrer Generation ohne Familienanbindung gab es jedoch spezielle Einrichtungen wie etwa die Armenhäuser.

Im Schnitt weniger als 40 Jahre zu leben, ist im heutigen 21. Jahrhundert, in dem die Lebenserwartung geschlechtsübergreifend auf einen Wert weit jenseits der 75 geklettert ist, kaum noch vorstellbar (Quelle: statista.com). Die Altersstruktur in Deutschland hat einen immer größer werdenden Anteil an Hochbetagten, also Menschen von 80 Jahren oder älter. 2011 waren es noch rund 4,2 Mio. Menschen, 2021 schon rund 6,1 Mio. – Tendenz steigend. Und diese Personengruppe hat statistisch gesehen das höchste individuelle Risiko, pflegebedürftig zu werden. 80-jährige Männer sind laut Statistischem Bundesamt zu 21,7 Prozent auf Pflege angewiesen, bei gleichaltrigen Frauen sind es 29,7 Prozent. Ab 90 Jahren betrifft dies fast zwei Drittel aller Männer und sogar neun von zehn Frauen. Der Bedarf an Pflegekräften wird also immer größer. Da gibt es kein Wenn und Aber. Doch es herrscht gähnende Leere auf dem Pflegefachkraftmarkt.

 

Vakanzzeiten

Je schneller eine freie Stelle besetzt werden kann, desto besser. Das gilt für jede Branche. Schaut man auf die durchschnittlichen Vakanzzeiten in den sogenannten „Engpassberufen“, so steht die Altenpflege in der unrühmlichen Liste ganz weit oben. Im Schnitt 249 Tage dauert es derzeit, eine Stelle in der Altenpflege zu vergeben. Eine am 1. Januar ausgeschriebene Stelle würde somit erst am 7. September neu bzw. wieder besetzt sein. Zum Vergleich: Im Jahr 2016 lag die Vakanzzeit in der Altenpflege noch bei lediglich 153 Tagen. Damals wie heute liegt die Zeitspanne deutlich über dem Durchschnitt des gesamten Arbeitsmarkts (Quellen: statista.com, Bundesagentur für Arbeit). Es offenbart sich, dass die Pflege kein attraktiver Arbeitsplatz zu sein scheint.

 

Weg(e) aus der Krise

Pflegepersonen arbeiten nicht erst seit Corona am Limit ihrer Belastbarkeit – vielerorts auch darüber hinaus. Laut einer anonymisierten Befragung des Deutschen Berufsverbands für Pflegeberufe (DBfK) aus dem Jahr 2018 dachten 35,2 Prozent aller Befragten in den vorangegangenen zwölf Monaten mindestens einmal daran, ihren Pflegeberuf gänzlich aufzugeben. Die Belastung schlägt sich auch auf den Krankenstand unter Pflegemitarbeitern nieder. Der letzte jährliche AOK-Fehlzeiten-Report vor dem Eintreffen des Coronavirus weist beispielsweise für 2019 eine durchschnittliche Fehlzeit von 27,5 Tagen für in der Altenpflege arbeitende AOK-Mitglieder auf. Einer der zehn höchsten Werte über alle Branchen des Arbeitsmarkts hinweg.

Es gibt also eine Reihe von Alarmsignalen: Fehlzeiten, Abwanderungsgedanken, ein stetig steigender Bedarf an Fachkräften und ein leergefegter Arbeitsmarkt. Politik und Träger müssen in noch stärkerem Maße für eine Verbesserung der Situation sorgen.

 

Fotos: Adobe Stock

Erschienen in: FÜNFZIG+ life – Ausgabe 03/2022