Es lauert überall. Und es überkommt einen oft dann, wenn man es nicht gebrauchen kann – das schlechte Gewissen. Allein die gängige Formulierung, man sei von „schlechtem Gewissen geplagt“, spricht Bände. Selbst wenn man mal vom ganzen Alltagsstress einfach nur abschalten will, klopft es an. Ist schlechtes Gewissen also unvermeidbar? Dieser Frage gehen Diplom-Psychologin Maja Storch und Neurobiologe Gerhard Roth in ihrem Buch „Das schlechte Gewissen – Quälgeist oder Ressource?“, aus dem Göttinger Verlag hogrefe, nach.
Wenn uns das schlechte Gewissen packt, fühlen wir uns unwohl. Es ist ein unerträglicher Zustand, den wir schnell wieder loswerden wollen. Doch wie soll das gehen? Maja Storch listet zu Beginn des Buches, das im vergangenen Jahr auf den Markt gekommen ist, drei Optionen auf, wie der Umgang mit schlechtem Gewissen aussehen könnte: Schlechtes Gewissen verhindern, es abmildern oder gar als Richtungsänderung für das weitere Leben nutzen. Gerade das Abmildern ist eine wichtige Option, da es Situationen gibt, in denen man ein schlechtes Gewissen nicht unterbinden, ein Kompromiss aber wenigstens etwas Abhilfe schaffen kann. Bestes Beispiel sind die Momente, wenn man sich zwischen zwei „Übeln“ entscheiden muss.
Was ist das schlechte Gewissen?
Das eigene Handeln unterliegt ständigen subjektiven Bewertungen. Wissenschaftlich auf eine einfache Rechnung heruntergebrochen entsteht das schlechte Gewissen als Ergebnis aus einem Soll-Ist-Vergleich. Gerhard Roth schreibt: „Es handelt sich beim schlechten Gewissen immer um eine Diskrepanz zwischen einer Ist- und einer Soll-Situation, also von etwas, was ich getan bzw. nicht getan habe, während eine Instanz, die ich als Quelle von Forderungen, Normen und Verpflichtungen normalerweise anerkenne, das Gegenteil von mir fordert.“
Es ergeben sind daraus, so Roth, drei Ebenen für die Entstehung eines schlechten Gewissens: Eine Handlungsabsicht, ein Ge- oder Verbot sowie eine Form der Sanktion bei dessen Verletzung.
Das wird jetzt sehr persönlich
Was haben wir zu gewinnen oder zu verlieren, wenn wir die Grenze eines Ge- oder Verbots überschreiten? Die Antwort darauf ist ganz individueller Natur. Denn laut Gerhard Roth ist die Persönlichkeit entscheidend für die Entstehung von schlechtem Gewissen. Um das zu erklären, nimmt der Neurobiologe den Leser mit auf eine Exkursion ins menschliche Gehirn. Und selbst wenn man mit medizinischen Fachbegriffen nichts anfangen kann, so wird doch schnell klar, dass hier viele Zutaten für eine Suppe zusammenkommen, die uns letztlich das schlechte Gewissen einbrockt.
Unsere Persönlichkeit entwickelt sich von der ersten Zellteilung an. Schon im Mutterleib nehmen wichtige psychoneurale Entwicklungen ihren Anfang. Diese Vorgänge definieren, wie gut wir später Stress verarbeiten, wie schnell wir uns selbst beruhigen, wie wir Dinge bewerten und uns motivieren, welches Bindungsbedürfnis wir haben, wie gut wir Impulse unterdrücken können und wie wir Realität und Risiko einschätzen. Bei so vielen verschiedenen Faktoren leuchtet es ein, warum manche Menschen schnell ein schlechtes Gewissen bekommen, andere in derselben Situation dagegen womöglich gar keine Schuldgefühle oder Reue empfinden. Schließlich wächst jeder unterschiedlich auf und macht andere Erfahrungen im Leben.
MACHT DER GEWOHNHEIT!
Der Mensch liebt es, Dinge zu wiederholen, die ihm im Moment des Handelns positive Empfindungen bescheren. Auch Naschen, Rauchen oder Alkoholkonsum gehören dazu. Psyche und Gehirn legen uns Verhaltensschemata an, die sich nach und nach so sehr verfestigen, dass wir bald gar keine andere Handlung in der Situation in Betracht ziehen. Es ist zur Gewohnheit geworden. Auch räumlich-soziale Zusammenhänge spielen dabei eine Rolle. Gerade das Abgewöhnen des Rauchens ist deshalb so schwierig, weil es häufig in einem festen Rahmen stattfindet, z. B. in der berühmten Raucherpause bei der Arbeit.
Solche Gewohnheiten üben große Macht auf uns aus. Das merken wir vor allem, wenn wir die schlechten davon ablegen wollen. Denn beim Blick auf die Neurobiologie zeigt sich, wie bei Gerhard Roth zu lesen, dass wir an die zuständigen Hirnareale mit unserem Verstand nicht herankommen. Deswegen nehmen wir uns auch fest vor, entgegen unserer Gewohnheit etwas zu tun oder zu lassen, scheitern aber kläglich.
Was kann man also tun? Wie Maja Storch anhand von drei Praxisbeispielen aus ihrer Arbeit deutlich macht, gibt es Hoffnung. Es ist mitunter nicht ratsam, Situationen nur aus dem Weg zu gehen, um die Entstehung von schlechtem Gewissen im Keim zu ersticken. Partys fernzubleiben, um nicht in Versuchung des Alkohols zu geraten, oder sich in der Pause nicht mehr mit rauchenden Kollegen zu unterhalten, kann soziale Konflikte hervorrufen. So tauscht man eine Quelle schlechten Gewissens mit einer neuen. Besser sei es, so Storch, diese Situationen für sich zu nutzen und schlechte Gewohnheiten durch neue Verhaltensweisen zu ersetzen, bis sie selbst zu Gewohnheiten geworden sind. Das erfordert Geduld, da neurobiologisch erst neue Verknüpfungen geschaffen werden müssen.
Das Spiel mit dem Gewissen
Alles könnte viel einfacher sein, wenn uns nicht ständig von allen Seiten ein schlechtes Gewissen eingeredet wird, gerade wenn wir eigentlich nicht vor hatten, eines zu bekommen.
Ein Vorreiter ist die Werbeindustrie. Provokante Werbespots renommierter Werbeagenturen zielten in der Vergangenheit zu bestimmten Gelegenheiten auf das schlechte Gewissen der Konsumenten ab. Der einsame Opa, der zu Weihnachten sein eigenes Ableben bekanntgibt, um die weit verstreute Familie, die ihn immer wieder vertröstet, endlich wieder einmal zusammenzuführen, ist ein Paradebeispiel.
Aber nicht nur die Werbung bringt unser schlechtes Gewissen auf Trab: Politik und Religion nutzen das schlechte Gewissen sogar als Machtinstrument. Sünder kommen nicht in den Himmel, heißt es. Was jedoch Sünde ist, entscheidet die Kirche. Früher glaubten reiche Christen, sich mit Prunkbauten kurz vor Ende ihres irdischen Lebens das Paradies erkaufen zu können.
Im Wahlkampf ist es ein beliebtes Mittel, nicht das eigene Programm anzupreisen, sondern das gegnerische zu verteufeln. So soll Ottonormalwähler dann am Wahltag bloß nicht „falsch“ wählen, um das Land nicht noch tiefer ins Unheil zu stürzen.
Auch die sozialen Medien haben mittlerweile eine wichtige Rolle im Verteilen von schlechtem Gewissen übernommen. Jeder Beitrag – ob als Text, Foto oder Video – wird von einer Horde an selbsternannten Gutachtern geprüft und dementsprechend kommentiert.
Schlechtes Gewissen und das Alter
Ebeneezer Scrooge war in der weltberühmten Erzählung von Charles Dickens ein geiziger alter Mann, der Weihnachten über alles verachtete, bis ihn drei Geister eines Besseren belehrten. Dabei nutzen die Geister der vergangenen, diesjährigen und zukünftigen Weihnacht nichts anderes als das Prinzip des schlechten Gewissens, um den kaltherzigen Griesgram zu einem liebevollen Menschen zu machen.
Da das schlechte Gewissen auch immer etwas mit Risikobereitschaft zu tun hat, z. B. beim Übertreten von Geboten, könnte man annehmen, dass ältere Menschen seltener mit schlechtem Gewissen zu tun haben, auch wenn es dazu keine Studien gibt. Hinzu kommt allerdings ein Aspekt, den Gerhard Roth im vorgestellten Buch anspricht: Ältere Menschen erleben durch ihre Lebenserfahrung so manche Situation ganz anders und wesentlich unaufgeregter als jüngere. Der Anreiz, Grenzen zu überschreiten, wird häufig ganz anders bewertet.
erschienen in: FÜNFZIG+ life – Ausgabe 01/2022
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