Wir alle vergessen etwas: Den Hausschlüssel, den wir auf dem Tisch liegen gelassen haben. Den Namen des Gegenüber, mit dem wir uns sogar schon mal länger unterhalten haben. Den Termin, den wir nicht in den Kalender eingetragen hatten, weil wir ihn sowieso nicht vergessen würden. Das alles scheint mit zunehmendem Alter häufiger vorzukommen. Aber ist das zwangsläufig so?
Wie der US-amerikanische Molekularbiologe und Autor John Medina in seinem Werk „Brain Rules fürs Älterwerden“ klarstellt, muss man zuallererst bedenken, dass die Forschung rund dreißig differenzierbare Gedächtnissysteme im menschlichen Gehirn ausgemacht hat, die wiederum ganz unterschiedlich schnell altern. Eines davon ist das motorische Gedächtnis. Das ist die „Festplatte“, auf der erlernte Bewegungen abgespeichert sind – von verhältnismäßig leichten wie Fahrradfahren bis hin zu komplexen handwerklichen Bewegungsabläufen. Die motorische Abteilung gehört zum prozeduralen Gedächtnis, das im Allgemeinen Fertigkeiten beinhaltet, die ohne Nachdenken, also automatisch eingesetzt werden.
Im Gegensatz dazu steht das deklarative Gedächtnis. Darin vereinen sich das semantische Gedächtnis mit all den gesammelten Fakten und dem angehäuften Wissen sowie das episodische Gedächtnis, in dem sich Ereignisse und Tatsachen aus dem eigenen Leben befinden. Diese Dinge sind willkürlich abrufbar und darüber hinaus auch manipulierbar. Gerade darin liegt ein besonderer Unterschied zum prozeduralen Gedächtnis.
Altersweisheit und Altersschwäche
Was geschieht nun im Alter? Eine gute Nachricht gibt es: Unser semantisches Gedächtnis speichert im Laufe unseres Lebens immer mehr Informationen. Dieses Phänomen bezeichnen wir umgangssprachlich als Altersweisheit. Medina schreibt dazu in seinem Buch: „Wir Älteren haben Zugriff auf einen größeren Wissensfundus, und der stellt uns bei der Entscheidungsfindung eine breitere Optionspalette zur Verfügung. […] Wir treffen Entscheidungen nicht mehr so impulsiv, sondern überdenken sie vorher.“
Auch motorisch ist bei uns im Alter – jedenfalls was die Schemata angeht – alles weitestgehend im Lot. Hier sind eher die körperlichen Gebrechen für einen subjektiven Abbau der Leistungsfähigkeit verantwortlich.
In den anderen Bereichen unseres Gedächtnisses sieht es mit zunehmendem Alter allerdings nicht mehr so rosig aus.
Ein Teil unseres Gehirns, der von „Altersschwäche“ nachweislich betroffen ist, ist das Arbeitsgedächtnis, das früher unter seinem mittlerweile abgelösten Namen Kurzzeitgedächtnis bekannt war. Habe ich abgeschlossen? Ist der Herd noch an? Dies sind Zweifel, die durch fehlende Informationen im Arbeitsgedächtnis ausgelöst werden. Diese Gedächtnislücken werden im Alter häufiger.
Die zunehmende Lebensdauer macht auch vor dem episodischen Gedächtnis nicht Halt. Es wird immer schwieriger, sich an Ereignisse und deren Einzelheiten zu erinnern. Vor allem der als Quellengedächtnis bezeichnete Teil baut mit fortschreitendem Alter nachweislich ab. So kann man sich vielleicht noch an den Inhalt eines Gesprächs erinnern, bei arg eingeschränktem Quellengedächtnis weiß man aber dann nicht mehr, mit wem man dieses Gespräch überhaupt geführt hat.
Gehen Sie wieder zur Schule
Was nach einer ausweglosen Situation klingt, kommt aber dennoch mit ein paar vielversprechenden Möglichkeiten daher. Denn Forscher haben vielfach nachgewiesen, dass durch das Erlernen neuer Dinge wieder Schwung in abbauende Gehirnregionen kommt. Das kann eine handwerkliche Fertigkeit sein, eine Fremdsprache oder das Spielen eines Musikinstruments. Auch Interaktionen mit Freunden – am liebsten in kontroversen Diskussionen – fördern die Gedächtnisleistung. In der Wissenschaft wird dies als produktives Engagement bezeichnet.
Und wenn man schon sein Leben lang Wissen angesammelt hat, so sollte man es im Alter tunlichst an andere weitergeben. Auch das hat Forschungsergebnissen zufolge sehr positive Auswirkungen auf die Gedächtnisleistung. Weitere „Hausmittelchen“ gegen kognitiven Abbau sind Bewegung, Meditation, ausreichend Schlaf und eine gesunde Ernährung.
Demenz
Das Wichtigste vorweg: Bei sporadischem Auftreten von Gedächtnislücken sollte man – wie oben bereits angedeutet – nicht gleich von einer heraufziehenden Demenz ausgehen. US-Experte John Medina sagt dazu: „Aktuellen Schätzungen zufolge haben 10 bis 20 Prozent aller Menschen über fünfundsechzig Jahre eine leichte kognitive Störung.“
Regelmäßigkeit und Häufigkeit der geistigen Aussetzer sind dagegen mögliche Indizien, die ab einem gewissen Grad eine Abklärung sinnvoll machen. Das eigene subjektive Empfinden ist dabei ebenso wichtig wie Beobachtungen aufmerksamer Mitmenschen wie der Familie oder Nachbarn. Je früher man kognitive Störungen erkennt, desto eher kann man etwas dagegen unternehmen. Und wenn es auch nur der Ausschluss einer demenziellen Erkrankung ist. Gut geeignet sind dazu im Übrigen Gedächtnisambulanzen, wie sie in der Region die Universitätsklinik Göttingen unterhält.
Auch die Forschung hat in den letzten Jahren einen Wandel durchgemacht und konzentriert sich mittlerweile verstärkt auf die Früherkennung von Demenzerkrankungen. Einen entscheidenden Hinweis liefert der Alltag. Ist man noch in der Lage, seinen Alltag gut alleine zu bewältigen, deuten Aussetzer im Gedächtnis eher auf einen normalen Alterungsprozess der kognitiven Leistungsfähigkeit hin. Bedenklich wird es dann allerdings, wenn man gewohnte Alltagsaufgaben mit immer größerer Mühe oder gar nicht mehr bewältigen kann.
Dann sollte man als ersten Schritt den Hausarzt konsultieren.
Demenzerkrankungen sind aber keinesfalls ausschließlich bei Menschen ab 65 Jahren zu finden. In Deutschland sind rund 2 Prozent der 45- bis 65-Jährigen an einer Demenz erkrankt.„Demenz“ ist aber eigentlich nur der Oberbegriff für eine Reihe an Symptomen, die allesamt den kognitiven Teil unseres Wesens betreffen.
Alzheimer
Die Alzheimer-Demenzerkrankung ist die am häufigsten vorkommende Demenzerkrankung, aber nicht die einzige.
Die genaue Ursache für Alzheimer ist noch nicht gefunden worden, jedoch werden die mit „Plaques“ bezeichnet Ablagerungen im Gehirn für das Absterben von Nervenzellen in Verbindung gebracht.
Nach der Diagnose leben Alzheimer-Patienten im Schnitt zwischen vier und zehn Jahren. Doch die Alzheimer-Demenz ist als Krankheit selbst nicht tödlich. Jedoch steigt mit dem Schweregrad der Erkrankung auch die Anfälligkeit für Infektionen, die laut der Deutschen Alzheimer Gesellschaft die häufigste Todesursache darstellen.
Wie die Gesellschaft auf Ihrer Internetseite feststellt: „Die Alzheimer-Krankheit ist bis heute nicht heilbar, das Fortschreiten der Symptome lässt sich jedoch vorübergehend hinauszögern.“ Damit ist die Behandlung mit Antidementiva gemeint, die gegen die Hauptsymptome eingesetzt werden. Erinnerungs- und Denkvermögen können so aber nur eine kurze Zeit stabilisiert werden.
Wie sehr der Medizin daran gelegen ist, dieser Krankheit medikamentös endlich Herr zu werden, belegt folgende Statistik: Von 1998 bis 2017 sind laut statista.com insgesamt 146 Entwicklungsprojekte für Alzheimer-Medikamente weltweit gescheitert. Das letzte zugelassene Medikament stammt aus dem Jahr 2002.
Für 2021 bahnt sich jedoch womöglich ein vorläufiges Ende der Durststrecke an. Ein Medikament mit dem Namen Aducanumab ist in den USA zur Zulassung bei der dortigen Kontrollbehörde FDA eingereicht worden. Es ist aber noch fraglich, ob die Testergebnisse der Phase-III-Studie ausreichen, um auf den Markt zu kommen. Denn die festgestellten kognitiven Verbesserungen sind nur gering und auch nur über eine hohe Dosierung zu erreichen.
erschienen in: FÜNFZIG+ life – Ausgabe 04/2020
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