Ein gestandener Tischlermeister aus Bremervörde, ein Schweizer Erfinder, ein Fernseh-Doktor aus Hamburg und ein Student der Holztechnik entwickeln zusammen in den 1950er Jahren etwas, das heute von über 200 Herstellern allein in Europa kopiert wird. Den Holzlattenrost. Doch das innovative Unternehmen lattoflex macht schon lange nicht mehr in Holz. Über die Liege-Revolution und ihre Evolution sprachen wir mit Boris Thomas, lattoflex-Geschäftsführer in dritter Generation.
Herr Thomas, wie kam es, dass in den 1950er Jahren ein Schweizer in den hohen Norden reist und mit einem ortsansässigen Tischlermeister etwas so Innovatives entwickelt?
Aus der Geschichte könnte man ein abendfüllendes Programm machen. Die Kurzfassung: Mein Großvater suchte nach dem Krieg händeringend nach Aufträgen. Es war nicht gerade die Zeit für individualisierten Möbelbau. Dann kam ein Auftrag von Dr. Neumeyer aus Hamburg. Der hat damals Sendungen im NDR-Fernsehen gemacht – „Der Doktor hat ihnen etwas zu sagen“. Er war Orthopäde und hat in diesen Sendungen über Gesundheitsprobleme berichtet. Er hatte Kontakt mit Hugo Degen in der Schweiz und hörte von seiner Erfindung. Gleichzeitig baute bei ihm Karl Thomas als Tischlermeister seine Praxis neu. Und so haben sich die drei Herren zusammen mit meinem Vater, der damals Student der Holztechnik in Hildesheim war, Gedanken gemacht, wie man diese geniale Idee mit den gebogenen Holzleisten technisch umsetzen kann.
Die Erfindung des Lattenrostes selbst brauchte gut zehn Jahre, bis die Bevölkerung den Nutzen darin erkannte. Bis dahin hielt sich die Tischlerei weiter mit dem Möbelverkauf über Wasser. Warum war der Start so holprig?
Man muss sich zurückerinnern an die Zeit. 1957 kommt jemand auf die Idee, ein Bett gegen Rückenschmerzen und für die Gesundheit zu verkaufen, das drei Mal so teuer ist wie ein normales Bett. Da hatten die Leute ganze andere Probleme in ihrem Leben. Es war einfach nicht die Zeit für sinnhaften Konsum. Es gab damals viel Hohn und Spott, auch in der Presse. Es erforderte sehr viel Energie, sehr viel Inspiration und sehr viel Glauben an die Idee vom schmerzfreien Schlafen.
Gab es zu Beginn auch intern Skepsis, ob die Idee überhaupt bei den Menschen zünden und letztlich auch wirtschaftlich tragfähig würde?
Wenn die Bank einen Brief schreibt, in dem steht, „Lassen Sie bitte den Quatsch sein, das wird Ihr Unternehmen nicht überleben“, dann kommen Zweifel. Mein Großvater und mein Vater haben auch davon berichtet, wie schwer es war, die Mitarbeiter immer wieder zu motivieren. Verbrennen wir nicht zu viel Geld damit? Werden die Leute uns jemals zuhören? Aber auch das formt den Charakter einer Marke und eines Unternehmens.
Der Durchbruch kam dann, weil nicht der Bettenhandel, sondern die Medizin auf das Konzept aufmerksam wurde. Woran lag das?
Wir fühlen uns dem normalen Bettmarkt eigentlich wenig zugehörig. Wir sind immer mit einem Bein in der Wissenschaft und der Medizin verankert.
In den 70er Jahren schrieb Dr. Neumeyer Beilagen – die sogenannten „Kolumnosen“ – für Ärztezeitungen, in denen er einfach mal erklärt hat: Wie liegt denn eine Wirbelsäule überhaupt in der Nacht? Ich glaube, dass das damals viel geholfen hat, weil Menschen dann auch bei ihrem Arzt gehört haben: „Wir müssen mal über ihr Bett reden“.
Die 70er Jahre waren unser goldenes Jahrzehnt. Damals hatten wir auch noch den vollen Patentschutz von 1957. Jeder, der in den 70er Jahren einen Lattenrost wollte, musste nach Bremervörde kommen. In den 80er Jahren sind wir aber in eine Art Sinnkrise geraten, denn die Patente waren ausgelaufen und alle stürzten sich auf das Thema ergonomische Lagerung und Lattenrost. Man vergaß förmlich, dass lattoflex das mal erfunden hat. Dann kriegte man in Deutschland Anbieter, die plötzlich mit billiger Ware in den Markt drängten. Wir mussten uns neu orientieren und uns die Frage stellen: Was unterscheidet lattoflex noch vom Rest des Marktes?
Wir haben damals eine lattoflex-Lösung gefunden: Lass uns das Ganze mal neu denken. Wenn heute 1957 wäre, wie würden wir mit heutiger Technologie, mit heutigen Möglichkeiten, mit heutigem Wissen eine Federung bauen, die gut für den Rücken ist?
Und dann kam 1993 Hugo Degen mit einer Tüte voller Papierflügelchen an ihren Stand auf der Möbelmesse in Köln.
Als ich das damals live auf der Messe gesehen habe, dachte ich: Wow, das ist eine coole Idee, weil es zum ersten Mal eine Segmentierung der gesamten Fläche ermöglichte. Auf der anderen Seite hat man natürlich sofort im Kopf: Wie macht man das mit den vorhandenen Produkten? Es war schon klar, dass das nicht auf eine Holzleiste geht. Ich glaube, dass der Charakter von lattoflex immer war, die Tür zu etwas Neuem zu öffnen, wenn man erkennt, dass es für den Menschen besser ist. Denn am Ende entscheidet immer der Schläfer. Im Verkaufsteam gab es allerdings heillose Diskussionen darüber, denn es stellte ein Stück unserer Geschichte in Frage.
Denn sie hatten im Unternehmen ja eigentlich nur „Holzwürmer“, wie einer ihrer Verkaufsleiter mal sagte.
(lacht) Mein Vater und mein Großvater waren Tischlermeister. Wir hatten Tischlergesellen. Die haben natürlich alle mit Holz gearbeitet. Und jetzt kommen wir auf die wagemutige Idee, um die Federeigenschaften zu verbessern, Kohlefaser und Glasfaser einzusetzen. Das war natürlich ein Kulturbruch, ohne Wenn und Aber. Plötzlich mussten gestandene „Holzwürmer“ Fasertechnologie erlernen. Die größte Bedrohung für Menschen ist immer etwas Neues.
Mitte der 90er Jahre haben wir dann aber sukzessive begonnen, diese neue Technologie in unsere Produkte zu integrieren.
Wie lange hat dieser Prozess gedauert, weg vom Holz, hin zu modernen Materialien?
Ich würde ich fast von 20 Jahren sprechen, natürlich in Stufen. Wir haben erst angefangen, überhaupt die Technologie woanders einzukaufen. Irgendwann haben wir dann selber Glasfaserstäbe produziert und eine Fertigung dafür aufgebaut. Der finale Akt für diese ganze neue Technologie war etwa 2010/11. Man muss ja lernen, wie alles funktioniert. Wir haben am Anfang auch viele Dinge falsch eingeschätzt. Wir wussten z. B. gar nicht: Wie prüft man so ein Material auf Dauerhaltbarkeit? Was muss ich denn dafür sicherstellen?
Jetzt haben Sie nicht direkt mit Endkunden, mit Schlafenden zu tun, sondern mit Fachhändlern. Wie nahmen die den Technologiewechsel auf?
Es gab einige, die total begeistert waren. Auch ein Fachhandel will sich natürlich differenzieren vom Wettbewerb. Er sucht etwas, wo er sagen kann: Hier sind wir einen Schritt weiter wie alle anderen. Und gleichzeitig war natürlich ein blutendes Herz dabei. Man hatte sich über Jahrzehnte an diese alte Technologie gewöhnt. Aber wenn man das mal in andere Bereiche überträgt: Kein Mensch möchte heute mehr auf einem Holzskier Skilaufen. Mit einem Holztennisschläger spielt auch keiner mehr Tennis.
Für neue Lösungen für den Menschen brauchen wir die Akzeptanz von neuen Technologien, von neuen Materialien. Und das sind in diesem Fall Fasermaterialien, wasserfest, formstabil und endlos haltbar. Die haben über 20 Jahre hinweg keinen Verlust in der Federkraft. So sympathisch wie Holz ist, aber es verformt sich und ich muss das Produkt viel schneller austauschen.
Wie musste sich Ihre Produktsweise ändern, damit man die neuen Werkstoffe überhaupt verarbeiten kann? In einer Möbeltischlerei war das dann ja sicher nicht mehr möglich.
Lattoflex hat eine wirklich verrückte Idee: Wir wollen für jeden Menschen auf der Erde sein persönliches Bett fertigen. Deswegen haben wir keine Serienfertigung und kein Fertigteillager. Wenn man jetzt nach Bremervörde kommt, kann man kein lattoflex kaufen. Wir fertigen nur nach Auftrag, weil wir heute fast 12.000 Varianten allein im Standardsortiment haben. Wir brauchten damals also eine Fertigung. Und die konnte man von der Automobilindustrie am besten lernen. Audi baut nur 1,2 Mal denselben Wagen pro Jahr. Irgendein Bauteil ist immer anders, eine Kopfstütze, eine Farbe. Aber wie können die so viele Varianten trotzdem noch halbwegs effektiv und zu vernünftigen Kosten produzieren? Wir haben also eine Fertigungsstraße und eine Plattformstrategie aufgebaut, analog zu dem, was in der Automobilindustrie passiert.
Die Neuerfindung des Lattenrostes ist jetzt auch beinahe 30 Jahre her. Was hat sich seitdem in Ihrer Ideenschmiede getan?
Wir haben ein Schwesterunternehmen, Thomas Hilfen, das sich speziell um die Lagerung von Menschen in Pflegeheimen und Altersheimen kümmert. Dort gab es wissenschaftliche Studien, die gezeigt haben, wenn man Flügel macht, die einen Kipp-Effekt haben – die nennen das in den Studien „Mikrostimulation“-, führt das zu einer Aktivierung gerade bei älteren Menschen. Also bei Menschen, die aufgrund von Krankheit oder Unfällen länger liegen müssen. Das führt zu einer wesentlich schnelleren Aktivierung des Körpers und sie werden viel schneller wieder mobil.
Wir haben das für Leute ab 65 und älter adaptiert und so einen Flügel, der eine Mikrostimulation bietet, auch bei unserem „normalen“ lattoflex-Sortiment eingebaut. Wir sind dabei, Betten zu bieten, die aussehen wie ein normales Bett, aber Technologie und Komfortideen beinhalten, die gezielt für ältere Menschen sind.
Da schließt sich der Kreis mit Wissenschaft, Forschung und Medizin wieder. Warum ist das für lattoflex so wichtig?
In der ganzen Forscherei gibt es eine Lücke und die nennt sich Bett. Das Problem ist grundsätzlich, dass sich die Schlafforschung für ganz andere Themen interessiert. Und auch die Orthopädie kümmert sich eigentlich nicht darum. Also haben wir 1966 angefangen, alles zu sammeln, was es weltweit zur Forschung zum Thema Schlafen gibt. Und nur ein Bruchteil kümmert sich um das Bett. Deswegen haben wir das immer selber in die Hand genommen.
Wir haben in den 60er Jahren die ersten großen Röntgen-Aufnahmen von liegenden Menschen gemacht. Dann gab es riesige Schlafstudien in den 70er und 80er Jahren. Und drei weitere Studien allein in den letzten zehn Jahren mit je 200 Testschläfern.
Das ist mit irrem Aufwand verbunden, mit Notar, wissenschaftlicher Begleitung und Fragebögen. Das hat in der Gründlichkeit noch nie jemand gemacht. Selbst eine Organisation wie die Stiftung Warentest legt fünf Testschläfer in einem Schlaflabor auf eine Matratze und fragt sie danach, wie sie sich fühlen.
Unser Ergebnis: Ungefähr 93,8 Prozent aller Schläfer haben nach vier Wochen auf lattoflex weniger oder keine Rückenschmerzen mehr. Das können wir inzwischen mit insgesamt 600 Testschläfern wissenschaftlich belegen.
Die modernen Unterfederungen werden in Ihrer Produktion auch von Menschen mit Behinderung gefertigt. So ein integratives Umfeld ist nicht alltäglich. Wie kam es dazu?
Da muss man ein bisschen in unsere Familienhistorie gucken. Meine Oma hatte Multiple Sklerose und ist 1967 daran verstorben. Mein Großvater hat aufgrund dieses persönlichen Schicksals meiner Großmutter ganz viele Hilfsmittel gebaut, damit sie sich selber noch die Strümpfe anziehen kann, zu Hause sein kann und nicht ins Heim muss. Als sie verstarb, hat er aus diesen Hilfsmitteln das Unternehmen „Thomas Hilfen“ gegründet. In den ganzen 70er, 80er und 90er Jahren hat mein Großvater viel für die Behindertenwerkstätten und die Lebenshilfe getan. Das war immer eine sehr lose Zusammenarbeit. Vor zehn Jahren haben wir dann gefragt: Wie wäre es, wenn wir eure Mitarbeiter von der Lebenshilfe zu Mitarbeitern bei uns im Werk machen würden? Wir haben den Ehrgeiz gehabt, diese Menschen vollständig in einen Serienprozess zu integrieren. Das war viel herausfordernder, als wir gedacht haben, für alle Beteiligten. Es war nicht ganz leicht, über zwanzig Menschen mit teilweise sehr starken Einschränkungen in so einen Prozess zu integrieren. Das haben wir aber hingekriegt. Und wir sind heute echt stolz darauf. Und auch die Mitarbeiter sind voller Stolz, dass sie mithelfen dürfen, das beste Bett der Welt zu bauen. Und dass sie gebraucht werden. Das ist ein einzigartiges Projekt.
Wenn man schon so viel im Bereich Bett erfunden hat, woran arbeiten sie gerade?
Es ist ja grundsätzlich die Frage: Was kann ich noch in ein Bett integrieren, was Menschen helfen könnte? Wir haben z. B. gerade ein Projekt neu auf den Markt gebracht. Das ist ein Spezialprodukt mit sehr viel Sensorik, das in eine Matratze integriert werden kann, und den Schläfer während der Nacht „überwacht“. Da ist der Zielfokus ganz klar der Bereich Heimpflege und Menschen, die aufgrund von Unfällen oder Erkrankungen zu Hause sind oder die Angehörige pflegen müssen. Diese Sensormatte kann viele Dinge ermitteln, analysieren und auswerten und leitet sie automatisiert über eine App an jedes Handy weiter. Das sind Punkte, die wir unheimlich spannend finden.
erschienen in: FÜNFZIG+ life – Ausgabe 03/2021
Fotos: © lattoflex